Geschichte: Ritual, Symbol, Repräsentation

Rituale der Herrschaftseinsetzung

Veröffentlicht am 13. März 2021 in Webdoku Oberstufe 2020 von ; zuletzt geändert: 5. August 2022

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Autor*innen: Bjarne Lassek, Janka Zündorf & Luis Schäfer

Unter den Augen von Hunderten wird dem neu gewählten König die goldene Krone aufgesetzt. Dann zieht er, von Jubelrufen begleitet, die Straße zum Römer entlang. Zu seinen Ehren wird dort ein luxuriöses Festmahl veranstaltet. Ein Glück, könnte man meinen, hat uns die Aufklärung von solch verschwenderischen Einsetzungsritualen und überkommenen Symbolen befreit! Mit den heutigen schlichten Vereidigungen von Ministern oder Kanzlern hat dies nichts mehr zu tun – aber nur scheinbar. Wie wir bereits in der letzten Sitzung sehen konnten, findet man erstaunliche Parallelen, wenn man die heutigen Amtsübergaben mit der Kaiserkrönung vergleicht. Die Ähnlichkeiten zeigen nicht nur, dass auch in der Gegenwart Herrschaftseinsetzungen rituell durchdrungen sind, sondern auch, dass es eine unmittelbare Tradition zwischen den Ritualen der Vergangenheit und der Gegenwart gibt.

Wir haben uns hier die Frage gestellt, warum es überhaupt ein Ritual benötigt, um einen neuen Herrscher einzusetzen. Darf man nicht davon ausgehen, dass eine gesetzliche Regelung oder eine Urkunde genügen, um den Regierenden in seiner Position zu bestätigen?

Die Ritualforschung erklärt, dass das Ritual einen Zustand der Autoritätslosigkeit überbrücken soll, welcher entsteht, wenn der vorherige Herrscher seine Macht verliert. Dies kann geschehen, wenn er stirbt, abdankt, des Amtes enthoben wird oder seine Amtszeit abgelaufen ist. Die unbesetzte Stelle des Herrschers stellt einen Bruch in der gesellschaftlichen Ordnung dar, führt zu Unsicherheit und kann damit sogar eine Gefahr für besagte Ordnung darstellen.

Das Ritual strukturiert den Übergang. Es soll den unsicheren Zustand überbrücken und beenden. Dabei geht es vor allem darum, dass die Vorstellungen aller Beteiligten verändert werden – denn nur, weil in einer Urkunde oder in einem Buch steht, wer der neue Herrscher (oder Regierende) ist, heißt es nicht, dass dieser fortan automatisch als solcher wahrgenommen und die neue Ordnung akzeptiert wird. Eine solche Veränderung der Vorstellung gelingt dem Ritual, indem es Zusammenhänge und Übergänge symbolisch darstellt. Für die Gesellschaft bedeutet dies, dass ihre Ordnung bestätigt und soziale Unterschiede als legitim anerkannt werden.

Für die eingesetzte Person bewirkt das eine Veränderung der Vorstellung in zweifacher Hinsicht. Durch das Ritual identifiziert der Herrscher sich mit seiner neuen gesellschaftlichen und sozialen Funktion sowie den damit einhergehenden Rechten und Pflichten. Er fühlt sich seiner neuen Rolle, in die er von nun an schlüpft, verpflichtet. Aber auch die Vorstellungen der anderen Beteiligten von der eingesetzten Person, die das Verhalten zu ihr beeinflussen, werden verändert.

Derartige Ritualelemente finden sich in nahezu allen Einsetzungen der Vormoderne, ob bei der frühneuzeitlichen Kaiserwahl, der mittelalterlichen Papstweihe, der Einsetzung eines Stadtrats oder der Amtseinsetzung eines Universitätsrektors. Der genaue Ablauf ist aber durchaus flexibel und passt sich an die entsprechenden regionalen Gegebenheiten an.

Meist begann das Ritual mit der Beratung und Wahl eines Kandidaten (natürlich größtenteils männlich). Die Wahl war in der Regel geheim und auf einen kleinen Kreis von Wählenden beschränkt. Lediglich das Ergebnis wurde bekannt gegeben. Darauf folgte für gewöhnlich eine Prozession zu einem neuen Ort oder einer neuen Ritualstation. Der Gewählte wurde im Anschluss in ein Gestühl wortwörtlich „eingesetzt“. Das Gestühl war hierbei keine einfache Sitzgelegenheit, sondern es stand sinnbildlich für das Amt, welches übernommen wurde. Es symbolisierte die Beständigkeit des Amtes, welche unabhängig des sterblichen Körpers, der jenes bekleidet, überdauerte. Ähnlich verhält es sich mit den Insignien, welche dem Eingesetzten übergeben wurden. Sie verdeutlichen die Kontinuität des Amtes und erinnern an Recht und Pflichten. Es ist wenig verwunderlich, dass heute noch von „der englischen Krone“ oder „dem Heiligen Stuhl“ gesprochen wird, da diese symbolisch für das jeweilige Amt stehen. Sie statten die Person mit der Bedeutung und Funktion ihres Amtes aus.

Ebenfalls wichtig war das Entkleiden der alten Kleidung und das Bekleiden der neuen. In der vormodernen Zeit war der soziale Stand nicht immer von der politischen Funktion zu trennen. Durch die Kleidung konnte der soziale Stand leicht erkannt werden, und daher war auch streng reguliert, wer welche Kleidung tragen durfte. Der Kleidungswechsel während des Rituals steht also symbolisch für den Übergang in einen neuen sozialen Stand. Ein weiterer wichtiger Aspekt für den Statuswechsel war der sakrale Kern, der allen Einsetzungsritualen innewohnt. Ein gemeinsamer Gottesdienst oder eine konkrete sakrale Handlung stellte einen Bezug zur Gnade Gottes dar und sollte die Herrschaft durch Gott legitimieren. Den Abschluss des Rituals bildete meist ein gemeinsames Mahl. Die Sitzordnung bei diesem war streng geregelt, da sich die Bedeutung der einzelnen Akteure in ihr widerspiegelt. Außerdem wurden die am Mahl Teilnehmenden von den restlichen Zuschauern des Rituals getrennt. Dadurch entstand unter den Teilnehmenden ein Zugehörigkeitsgefühl, und der neue Amtsinhaber wurde in die Gruppe der teilnehmenden Mächtigen integriert.

Die Gemeinsamkeiten enden nicht im Ablauf, sondern sind selbst in Details zu erkennen. Sogenannte Kernsymbole bezeichnen bestimmte Gesten, Sprachformeln oder Gegenstände, die in diesen Ritualen vorkommen. Diese wurden in sogenannten Ordines (sg. Ordo) festgehalten. Dabei handelt es sich um schriftliche Vorlagen, die vergangene Einzelfälle oder Idealabläufe beschreiben. Für das Gelingen des Rituals war es von zentraler Bedeutung, dass alle Beteiligten eine klare Vorstellung davon hatten, wie das Ritual „richtig“ (und demzufolge: rechtmäßig) zu verlaufen hat.

Seine nachhaltige Wirkmacht entfaltet das Ritual auch durch die Heraushebung aus dem Alltag, die sogenannte Solemnität. Die Herrschaftsrituale zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine alltäglichen Handlungen an beliebigen Orten sind, sondern an wirkmächtigen und dekorierten Plätzen stattfinden.

Auch wenn die Wahlen wie erwähnt geheim waren, war es von großer Bedeutung, dass der Gewählte einmütig verkündet wird. Diese Unanimitas war von großer Bedeutung, da jeder Wahlberechtigte dadurch seine Zustimmung zeigte und im Nachhinein die Wahlentscheidung legitimierte. Es ist also nicht davon auszugehen, dass alle Beteiligten auch tatsächlich gleich gewählt haben, trotzdem bedurfte der zukünftige Herrscher der Zustimmung aller.

Ein weiteres wichtiges Kernsymbol war die Cavalcata. Die Prozession zwischen verschiedenen Ritualstationen war nicht einfach nur eine logistische Angelegenheit, sondern in ihr spiegelte sich die gesellschaftliche Ordnung wider. So war es meist geregelt, wer an welcher Stelle ritt und wie viel Gefolge er dabei mit sich führen durfte.

Auch in heutigen Einsetzungsritualen spielen die genannten Kernsymbole eine wichtige Rolle. Und welche Relevanz diese entfalten können, lässt sich paradigmatisch an der sogenannten „Kemmerich-Affäre“ um den gleichnamigen, kurz nach seiner Vereidigung im Februar 2020 zurückgetretenen Ministerpräsidenten von Thüringen nachvollziehen:

Bis heute findet bei der Ministereinsetzung zunächst eine Wahl statt, bei der ein Kreis von Wahlberechtigten zwischen den Kandidaten wählen kann. Nachdem Kemmerich als Sieger im dritten Wahlgang verkündet wurde und er die Wahl annahm, legte er einen Eid auf die Thüringer Verfassung ab. Der Eid ist in der Thüringer Verfassung festgelegt. Diese legt den generellen Ablauf fest und erfüllt somit eine ähnliche Funktion wie die Goldene Bulle für die Kaiserkrönung, auch wenn in der Verfassung nicht alle Details festgelegt werden, sondern Teile des Rituals aus gelebter Tradition bestehen. (Dazu gehört beispielsweise die Gratulation, aber auch ein formeller Kleidungsstil.) In besagtem Eid findet sich der sakrale Kern wieder, wenn er auch auf einen optionalen Satz am Ende der Eidesformel reduziert ist: „so wahr mir Gott helfe“. Solemnität kommt hierbei durch den symbolischen Ort zustande: Die Amtsübergabe findet im Landtag statt, also dort, wo sich das politische Tagesgeschehen abspielt. Ein besonderes Herausputzen der Örtlichkeit ist zwar nicht zu beobachten, dafür aber eine Fülle an Kameras und Reportern, welche durch die Quantität der Aufnahmen das Geschehene aus dem Alltag herausheben.

Eine Reihe der mittelalterlichen Elemente – wie die Setzung in ein Gestühl, die Insignienübergabe, die Bekleidung mit einem Krönungsmantel und das gemeinsame Mahl – finden sich im thüringischen Einsetzungsritual nicht mehr wieder. Das liegt zum Teil daran, dass die Amtseinsetzung keine veränderte soziale Stellung mehr mit sich bringt, dies muss deshalb auch nicht mehr durch eine aufgewertete Kleidung etc. verdeutlich werden.

Die Prozession hingegen findet – in einer sehr abgewandelten Form – jedoch im Anschluss an den Eid weiterhin statt. Hier schreiten die jeweiligen Fraktionsangehörigen nach vorne, um dem neu Eingesetzten, in unserem Fall Thomas Kemmerich, zu gratulieren. Vergleichbar zur Cavalcata lässt sich hier eine Hierarchie erkennen, denn zunächst gratulieren die Fraktionsvorsitzenden, erst danach folgen die anderen Fraktionsangehörigen. Die politische Ordnung wird so symbolisch hervorgehoben und durch die Beteiligten akzeptiert. Aber es passiert noch etwas weiteres: Durch die Gratulation erfüllen sie das Kernsymbol der Unanimitas. Auch die vielen Abgeordneten, die nicht für den Eingesetzten gewählt haben, machen durch die Gratulation sichtbar, dass sie ihn und seine Regierung akzeptieren.

Gerade die Unanimitas blieb jedoch bei der Einsetzung Kemmerichs dezidiert aus. Die Fraktionsvorsitzende der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, überreichte Kemmerich nicht wie üblich einen Blumenstrauß, sondern warf diesen Kemmerich zu Füßen. Sie brachte darin ihren Protest zum Ausdruck, dass Kemmerich entgegen der bisherigen Ordnungsvorstellungen und vorheriger Absprachen durch die Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde. Sie zeigte dadurch symbolisch, dass sie (oder stellvertetend: die von ihr repräsentierten Teile der Bevölkerung) seine Regierung nur teilweise anerkennen. Das Ausbleiben der Unanimitas wird noch dadurch gesteigert, dass nun parallel zum Amtseid Kemmerichs auch der Blumenwurf durch die Medien geht und dadurch öffentlich gemacht wird.

Nur wenige Tage später wird der Druck auf Kemmerich so groß, dass er zurücktritt. Auch wenn sich der gescheiterte Amtsantritt nicht monokausal auf den Blumenwurf zurückführen lässt, kann dessen Relevanz im Nachhinein jedoch nicht ignoriert werden.

Das Beispiel zeigt, wie viel der vormodernen Einsetzungsrituale noch in unseren modernen Ritualen steckt. Der Blick in die Vergangenheit hilft uns, Zusammenhänge zu erkennen und unsere eigene Zeit besser zu verstehen. Auch wenn die äußeren Formen der modernen Einsetzungen scheinbar schlicht und unscheinbar gehalten sind, sind sie durchzogen von Symboltraditionen, die nach wie vor kaum an Wirkmächtigkeit eingebüßt haben.

Literatur
  • Jutta GÖTZMANN: Weihen – Salben – Krönen. Die vormoderne Kaiserkrönung und ihre Imagination, in: Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa 800-1800, hg. v. Barbara STOLLBERG-RILINGER u.a., Darmstadt 2008, S. 21-25.
  • Dorothee LINNEMANN: Rituale der Einsetzung. „Äußere Formen“, Funktionen und Bedeutung, in: Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa 800-1800, hg. v. Barbara STOLLBERG-RILINGER u.a., Darmstadt 2008, S. 68-147.
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